In der Kita haben sie Geräte. Ein Laminiergerät. Einen Labelmanager, oder, zu deutsch, Beschriftungsgerät. “Beschriftungsgeräte für klare Verhältnisse” heißt das bei Media Markt. “Telefon!”, rufen die Kinder – alles, was Tasten hat, ist ein Telefon. Mit leichtem Entzücken tippt die Erzieherin Elternvornamen ins Gerät ein, um entsprechende Klebeetiketten an die Garderobenfächer der dazugehörigen Kinder zu kleben. Kenne deinen Nachbarn! Ich übe mich als persönliche Revolte sowieso schon länger in Vornamen, schließlich ist das Private politisch und andere Menschen sind nicht “die Mama” oder “der Papa” von. Wenngleich es als add-on dann doch immer dazugesagt werden muss, sonst kennt sich wieder keiner aus. Nur die Kinder, die wissen alle Vor- und Straßennamen und ungefähre Altersangaben. Meine Mama ist 15.
Wir sind ganz alleine auf dem Spielplatz, 4 Mamas, 4 Kinder, umzingelt von grauen Plattenbauten. Es gibt ein ausgefeiltes Klettergerüst, eine mehrsitzige Federwippe und, vor allem, zwei Schaukeln. T. und ich schaukeln unsere Kinder an, “in die Bäume schaukeln”. Immer mit der rechten Hand, “Tennisarm”, sagen wir und werden ganz friedlich, eine Meditation am Pendel. “Wo ist der Vogelmann?” fragt das Kind und blickt suchend zum vertrockneten Gebüsch. Auf dem Hochparterrebalkon gegenüber zündet sich ein älterer Mann eine Zigarette an. “Der Vogelmann!” ruft das Kind. “Nein, das ist der Menschenmann”. “Was macht der Menschenmann?” fragt das Kind. “Der schaut”, sagen wir. Ich mag sie ja, diese unbemühte Lakonie. “Die Sonne ist blau”, ruft das Kind. “Und grün!”
Wir schubsen die Kinder an und träumen von Fahrradausflügen und Weißweinschorle, irgendwie sind wir da auch alle hineingestolpert, in dieses Leben mit Traumagruppen und Bällebädern, mit zweijährigen Kindern, die Lieder singen und Männer suchen und ganz oben auf dem Klettergerüst zu weinen anfangen. “Du hast es alleine raufgeschafft, du schaffst es auch wieder runter”, sagt der Elternroboter, natürlich halten wir eine Hand hin und geben Geleitschutz. Auch das kleine Gespräch ist eines über die wichtigen Fragen des Lebens, wir haben wenig Zeit und sind sehr effizient. Wir haben noch nicht beieinander in Küchen gesessen, aber wir kennen die Ängste in Krankenhäusern, die Zweifel, ob wir umziehen, auswandern oder überhaupt alles ganz anders und neu denken sollen, wir können Lieder singen von übergriffigen Vorgesetzten und Teilzeitmodellen, wir gründen Unternehmen und reichen Dörrobst und Zwieback, mit unserer spielplatztauglichen Ausrüstung könnten wir auch gleich irgendwo als Söldner anheuern, wir kennen die Entbehrung und das Auge des Sturms und wir feiern die Feste nicht, wie sie fallen, wir machen, dass sie fallen.
Jetzt erstmal klarkommen, Geld verdienen und halbwegs einen Rhythmus finden, sagen wir. Vereinbarkeit und so. In zwei Jahren, da hätte ich gerne Raum für Fokus und Reflexion. Wohin ich noch so will und warum. Nicht nur das Kind hin- und herreichen und Termine haben, so wollte ich doch nie sein. “Ein schlechtes Gewissen muss man aber auch nicht haben”, sagt L. “Immer, wenn ich Luis abholen will, ist er noch nicht fertig mit spielen oder vespern. Da kann ich auch gleich später kommen.”
Die milchige Sonne verschwindet hinter den hohen Häusern, kommt, wir fahren nach Hause. Wir packen Schaufeln und Fruchtriegel zusammen und erobern die Straßen per Fahrrad, wir haben Vorfahrt und der Wind weht im Haar. Das Kind singt ein Rock-Medley aus “Der Mond ist aufgegangen” und “Hänschen klein” und oben am Himmel guckt er schon runter, der frühe Mond. Wir sind eine altersübergreifende Nachmittagsgang, denke ich und dieser Gedanke lässt mich innerlich Trikots bedrucken.
Eines Tages, da werden wir wieder auf Dachpappe sitzen, den Höhenunterschied begreifen, runtergucken und “geh nicht so weit an den Rand” rufen. Wir werden verstanden haben, dass Flow das ist, was passiert, wenn man den Widerstand aufgibt, während wir Waldmeisterbrause teilen und heimlich Kirschkerne weitspucken werden. Wir werden unser Leben mit “Wo die Grenzen fließend sind” untertiteln und täglich improvisieren, denn das Leben ist ein Tripp Trapp-Stuhl: es wächst mit. Wir werden wieder Überraschungen in Hosentaschen finden und Marmelade am Schuh haben, zusammen ist man weniger allein. Denn zwei sind ein Date, drei schon eine Party.
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Hier streunt und stromert unsere Kolumnistin Madeleine Penny Potganski ohne Landkarte durch das wilde Leben über 30 und schreibt über Kinder, Kanus und Kreativsein mit Kirschlikör. Oder so. Braucht man eine Bucket List und hinter welcher Ecke lauert das Abenteuer? Wie fühlt sich das an, einen kleinen Menschen beim Aufwachsen zu begleiten? Klappt das mit der Vereinbarkeit und dem Familienidyll in selbst gebauten Höhlen? Ist Karriere immer oben, schlägt Kopf Kapital und wie wichtig ist Geld als Gestaltungsmittel? Wieviel Arbeit macht Kunst und wo verläuft die Grenze zwischen Verknalltsein und Broken Hearts Syndrom? Wohin fahren wir mit dem vollgepackten Auto und wieviel können wir noch ausprobieren? Manchmal muss man eine Münze werfen und an jeder Kreuzzug neu entscheiden: rechts oder links? Und sich im Zweifel einfach auf den Boden legen, denn wer liegt, sieht mehr vom Himmel. Spielplatzsand und Campingurlaub, Lippenstift und Hannah Arendt, harte Verhandlungen und Museumsmagie, im Taxi weinen und von Dächern schreien. Prost und gute Reise!